Hat das alte Links-Rechts Spektrum ausgedient?
Links oder rechts? Seit über 150 Jahren sind wir es gewohnt, unsere politischen Einstellungen auf dieser simplen eindimensionalen Skala anzutragen. Dabei sind diese beiden Schubladen im Lauf der Zeit mit so Vielem, teils sehr Unterschiedlichem befüllt worden, dass sie immer unübersichtlicher und schwammiger geworden sind. Auf der linken Seite tummeln sich grüne Realos neben überzeugten Marxisten, Klima- und Diversity-Aktivisten und Klassenkämpfern alter Schule. Die Grünen fordern lautstark Waffenlieferungen und Sarah Wagenknecht hat eine Partei gegründet, die zwar links sein soll, aber gesellschaftspolitisch geradezu reaktionär daherkommt. Als 'rechts' möchte andererseits ohnehin kaum noch jemand bezeichnet werden. Laut einer Datenanalyse der Zeit würden sich nicht einmal die Anhänger der AfD selbst so einordnen. Und auch fast alle anderen Parteien vermeiden klare Bekenntnisse zu einer Seite und machen offiziell Politik für die ‘Mitte der Gesellschaft’. Da kann man schon den Eindruck gewinnen, dass das alte Rechts-Links Spektrum der Komplexität unserer gesellschaftlichen Debatten nicht mehr gerecht wird.
Aber gleichzeitig drängt sich doch mehr denn je der Eindruck auf, dass unsere Gesellschaft tatsächlich zwischen zwei Polen aufgespannt ist. Dass es zwei Lager gibt, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Wenn dieser Eindruck zutrifft und gleichzeitig das Rechts-Links Schema die Situation nicht hinreichend erfasst – wo genau verläuft dann die Bruchlinie, an der unsere Gesellschaft zu zerreißen droht? Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen und dabei ein Gegensatzpaar vorstellen, mit dessen Hilfe sich die gegenwärtige Debatte meines Erachtens besser begreifen lässt.
1. Der Universalist (Inklu)
Auf der einen Seite des Spektrums steht der moralische Universalist. Er vertritt die These, dass alle Menschen – ganz unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion oder sonstiger Gruppenzugehörigkeit – gleichwertig sind und somit gleich behandelt werden müssen. Das Ziel ist eine Welt, in der alle Menschen gleichen Zugang zu Wohlstand und Lebensglück haben. Alle sind mit eingeschlossen, insofern handelt der Universalist inklusiv. Deshalb werde ich ihn der Kürze halber Inklu nennen. Wirkmächtig wurde der moralische Universalismus zur Zeit der Aufklärung, maßgeblich vorangetrieben durch Immanuel Kant. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenreche feierte er seinen bisher größten Triumph. Der erste Satz von Artikel 1 - 'Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren' - formuliert exakt den Kern des Inklu Menschenbildes und setzt ihn ins Zentrum einer internationalen Rechtsordnung. Heute wirkt er für uns so selbstverständlich, dass leicht in Vergessenheit gerät, dass der überwältigende Großteil der Menschheitsgeschichte von dem anderen Pol dominiert wurde.
2. Der Partikularist (Exklu)
Der Gegenspieler des Inklus ist der Partikularist. Für ihn ist jeder Mensch Teil einer oder mehrerer Gruppen und zuallererst für das Wohlergehen seiner Gruppe zuständig. Die eigene Staatsangehörigkeit kann eine solche Gruppe sein, eine Religionsgemeinschaft, eine ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, etc. Jede Gruppe bildet eine Art exklusiven Club. Exklusiv, weil nicht jeder einfach so Mitglied der Gruppe werden kann. Deshalb nenne ich den Partikularisten von nun an Exklu. Andere Gruppen werden nicht zwangsläufig als minderwertig betrachtet (auch wenn es den Exklu auch in dieser radikaleren Form gibt), aber jeder ist zuvorderst der eigenen Gruppe verpflichtet, mit allen Konsequenzen im Falle von Interessenskonflikten. Donald Trumps 'Amerca First' oder die AfD Version 'Unser Land Zuerst' sind Exklu-Philosophie in Reinform.
Bevor ich auf Implikationen dieser Unterscheidung zu sprechen komme, zunächst noch zwei kurze Bemerkungen:
Erstens: Inklus und Exklus gibt es nur selten in Reinform. Vielmehr handelt es sich auch hier um ein Spektrum mit unterschiedlichen Schattierungen. Die meisten Menschen würden – selbst wenn sie beteuern, dass alle Menschen gleichwertig sind – im Ernstfall doch zuerst die eigenen Kinder retten bevor sie sich um alle anderen kümmern. Auf der anderen Seite gibt es sicherlich einige extreme Exklus, die offen rassistisch auftreten. Die meisten allerdings würden auf dem Papier sogar der universalistischen Grundthese der allgemeinen Menschenrechte zustimmen, sie aber gleich im Anschluss durch ein mehr oder weniger großes ABER einschränken. (Ausländer sind schon ok, aber halt nur im Ausland.)
Zweitens: Es könnte der Einwand erhoben werden, dass Inklu und Exklu letztlich nur andere Begriffe für rechts und links sind. Der Historiker Volker Weiß etwa beschreibt den Unterschied zwischen links und rechts ungefähr so wie ich den zwischen Inklu und Exklu. Aber neben dieser Auffassung gibt es eben zahlreiche konkurrierende Definitionen. Die Links-Rechts-Dichotomie versucht eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Konflikten unter einem Gegensatzpaar zu fassen und verliert dadurch natürlich an Schärfe. Meine Behauptung ist also, dass unter der Vielzahl der verschiedenen Links-Rechts Interpretationen die Inklu-Exklu Polarität diejenige ist, die den aktuellen Gesellschaftlichen Grundkonflikt am besten abbildet. (Abgesehen davon sind die jeweiligen Pole eben doch nicht ganz deckungsgleich: Linke Identitätspolitik findet sich z.B. eher auf der Exklu Seite des Spektrums wieder, wie wir noch sehen werden.)
Implikationen
Ich habe behauptet, dass die Inklu-Exklu-Polarität besser geeignet ist, die gesellschaftliche Realität zu verstehen als das klassische Links-Rechts Schema. Ich will hier nur drei Beispiele geben, warum ich das so sehe:
1. Die Rolle der Grünen
In der deutschen Parteienlandschaft sind derzeit die AfD und die Grünen diejenigen, die sich am schärfsten in Opposition zueinander befinden. Mit dem klassischen Links-Rechts Spektrum im Kopf lässt sich das kaum erklären. Sind die Grünen nicht längst eine Partei der bildungsbürgerlichen Mitte geworden? Warum taugen ausgerechnet sie so gut als Feindbild für die Rechten?
Legt man nun das Inklu-Exklu-Schema an, wird die Sache klarer, denn tatsächlich sind die Grünen die einzige Partei, die relativ konsequent auf der Inklu-Seite des Spektrums steht. SPD und Union bleiben in dieser Frage vage oder inkonsequent. Am deutlichsten wird das in der Migrationsdebatte, wo beide Parteien zwischen ‘konsequent abschieben’ und ‘freundlichem Gesicht’ hin und her pendeln. Die FDP hat zu der Frage kaum relevantes beizutragen (und liegt wohl auch deshalb in Umfragen inzwischen nur noch um die fünf Prozent). Und die Linke war jahrelang durch einen internen Streit zwischen Inklus und Exklus gelähmt, bevor sich nun die Exklus unter Wagenknechts Führung abgespalten haben. Das grüne Kernanliegen Klimaschutz dagegen ist ein prädestiniertes Inklu-Thema. Im Kampf gegen den Klimawandel sitzt die ganze Menschheit im selben Boot. In keinem anderen Bereich spielt das Thema globale Gerechtigkeit eine solch zentrale Rolle. Darüber hinaus treten die Grünen relativ konsequent für ein liberales Asylrecht ein, für Rechte von Frauen oder sexuellen Minderheiten und für die Gültigkeit des Völkerrechts. Sogar der neue grüne Enthusiasmus für Waffenlieferungen wirkt vor diesem Hintergrund weniger rätselhaft. Geht es darum, einem Exklu-Extremisten wie Putin entgegenzutreten und ein Kippen der Weltgemeinschaft zurück zu einem 'Recht des Stärkeren' zu verhindern, ist sogar der eigentlich verhasste Einsatz von Waffen legitim.
2. Empörungsthemen
Es gibt eine Reihe von Themen, die derzeit mit großer Verlässlichkeit die Emotionen überkochen lassen. Die Migrationsdebatte gehört dazu, ebenfalls das Gendern. Überhaupt Geschlechterrollen, Sexismus, Metoo, die Rechte von Sexuellen Minderheiten (z.B. Transpersonen), der Umgang mit anderen marginalisierten Gruppen (People of Color, Sinti und Roma, etc.). Warum nehmen diese Themen in der Debatte einen so großen Raum ein? Andere Fragen, etwa nach Steuerpolitik, Verteilungsgerechtigkeit oder Bildungspolitik betreffen unseren Alltag doch mindestens genauso sehr und sind vermutlich für unser aller Zukunft viel entscheidender.
Was all diese ‘Empörungsthemen’ eint ist, dass sie sich letztlich auf den Inklu-Exklu Konflikt zurückführen lassen. In all diesen Debatten ergreifen Inklus und Exklus ganz selbstverständlich und mit großer Überzeugung Partei für gegensätzliche Seiten. Deshalb eignen sie sich so gut, um zu mobilisieren und emotionalisieren. Sogar die Debatte um den Klimawandel lässt sich wie oben erwähnt auf diese Weise beschreiben. Exklu-Kreise argumentieren, dass sie deswegen nichts davon wissen oder nichts dagegen tun wollen, weil sie der Ansicht sind, wir würden hier unsere eigenen Interessen gegenüber einer globalen Problemstellung hinten anstellen. (Ob diese Analyse korrekt ist, ist eine andere Frage.) Themen, die nicht entlang der Inklu-Exklu Bruchlinie verlaufen, finden dagegen viel weniger Platz in der Debatte.
3. Die Krise der klassischen Linken
Die klassische Linke ist auf der ganzen Welt, insbesondere aber in Deutschland, in der Krise. Das liegt daran, dass sie es – im Gegensatz zur Rechten – bisher nicht geschafft hat, sich an der neuen Inklu-Exklu-Konfliktlinie auszurichten. Stattdessen dominieren innerhalb der Linken weiterhin die Narrative des alten Klassenkampfes ‘Unten gegen Oben’. Aus Gründen, die einen moralischen Universalismus durchaus implizieren, möchte man auf der Seite der Unterdrückten stehen. Damit lässt man sich aber auf die Gruppen-Logik der Partikularisten ein. Mit verheerenden Konsequenzen: Linke Akteure sind willens, im Nahost-Konflikt sogar die Terrororganisation Hamas zu unterstützen, weil sie gegenüber dem militärisch überlegenen Israel die Rolle des Underdogs einnimmt. Andere schlagen sich auf die Seite von Putins Russland als Gegenspieler eines übermächtigen Amerika. Auf sogenannten Friedensdemos finden sich klassische Linke plötzlich Schulter an Schulter mit AfD Wählern und Querdenkern, die einen als Unterstützer der vermeintlich Unterdrückten, die anderen als Anhänger des radikalen Exklus Putin. Innerhalb der ohnehin streitfreudigen Linken führt das zu neuen Überwürfnissen. Die Linke Partei in Deutschland hat sich im Zuge dieses Konfliktes gespalten und der Inklu Überrest droht in der politischen Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Fatal ist auch, dass sich ausgerechnet der progressivste Teil der linken Bewegung im Kampf gegen Diskriminierung und Marginalisierung der Identitätspolitik zugewandt hat. Demnach bestimmt sich jemandes Identität maßgeblich über die Zugehörigkeit zu einer kulturellen, ethnischen oder sexuellen Gruppe. Wer nicht zur Gruppe gehört, darf deren Kleider, Symbole und Haarschnitte nicht tragen, deren Musik nicht spielen und sich zu deren Belangen nicht äußern, ohne sich der kulturellen Aneignung schuldig zu machen. Das ist Exklu-Denken in Reinform und sorgt bei überzeugten Inklus zurecht für Stirnrunzeln. (Z.B. bei Susan Neiman, die der Thematik ein ganzes Buch gewidmet hat.)
Dies waren nur drei Beispiele, bei denen die Inklu-Exklu Unterscheidung meines Erachtens zum Verständnis beitragen kann. Es gibt eine Vielzahl weiterer potentieller Anwendungsgebiete: Die Entwicklung der Republikaner unter Donald Trump, die globale Konkurrenz zwischen autoritären Regimen und Demokratien, die merkwürdige Allianz zwischen Rechten, Linken und Islamisten im Antisemitismus, der überraschende Erfolg von VOLT bei der Europawahl.
Ich freue mich über Feedback zu diesem Artikel. Ist die Unterscheidung nachvollziehbar und einleuchtend? Sind die Begriffe Inklu und Exklu gut gewählt? Gibt es weitere Anwendungsbeispiele?